Tagomago (AT) - Leseprobe

 

Tagomago, August, 1534

 

Nur Mut, es ist bald vorbei“, murmelte Juana und richtete sich auf.

Schweiß rann über Gundes Gesicht, lief den Hals hinab und verlor sich zwischen rosigen, fleischigen Brüsten. Ihre feuchte Haut glänzte im Schein mehrerer, in einem Kreis um die beiden Frauen aufgestellten Öllampen. Gunde saß auf zwei Stühlen, eigentlich zwischen den beiden Stühlen, das Gesäß frei, die Oberschenkel auf je einer hölzernen Sitzfläche. Von Zeit zu Zeit tauchte die Hebamme einen Lappen ins kalte Wasser der tönernen Alcarraza, wrang ihn aus und wischte der Kreißenden den Schweiß von der Stirn.

Die nächste Wehe rollte heran und schwoll zu bedrohlicher Intensität an.

Mi madre!“, fluchte Gunde und stützte sich auf ihre festen Schenkel, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Kein weiterer Ton kam über ihre Lippen. Als die Wehe abebbte, ätzte sie: „Dass ... dass mir der Lump nicht unter die Augen kommt!“ Sie meinte Erik. Vermutlich.

Ja, ja, keine Bange.“ Juana reichte der Irin eine Schale mit lauwarmem Kräutersud, eine Mischung aus Zimt, Verbenenkraut und Nelken, welche die Geburt flott in Gang halten sollte. Die Frauen aus ihrem Volk tranken Sifrit in ihrer schwersten Stunde, dachte sie und ein Anflug von Schwermut legte sich um ihr Herz. Sifrit, das berauschte und die Schmerzen linderte... Ihre mit Murmeltierschmalz eingefettete Hand sorgte für einen geschmeidigen Geburtsweg und dafür, dass die Wehen in rascher Folge kamen. So dauerte es auch nicht lange und die Presswehen setzten ein.

Los!“, zischte Gunde. „Bringen wir's hinter uns!“ Es klang wie eine Kampfansage.

Aj.“ Juana nickte. Sie beobachtete die Irin aus den Augenwinkeln. Blond. Furchtlos. Zu allem entschlossen. Gunde warf ihren dicken Zopf auf den Rücken und schnappte nach Luft. Ihr breites Gesicht schwoll an, Nacken und Schultern versteiften sich, ihr Atem rasselte. Zum Glück presst sie aus Leibeskräften, dachte Juana, und die waren nicht ohne. Ihr Anblick hätte genügt, jeden Feind in die Flucht zu schlagen.

Juana kniete sich auf den Boden und tastete zwischen den fleischigen Schenkeln nach oben. Gott, es würde wieder ein riesiges Kind werden, vielleicht sogar größer als der Erstgeborene. Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Hör mal, du musst anders pressen“, drängte sie. „Versuch es mehrmals in kurzen Stößen.“

Himmel!“, keuchte Gunde und ihre hellblauen Augen sprühten Funken. Schweiß tropfte auf den Boden und mischte sich zwischen ihren Beinen mit Fruchtwasser und Blut. „Ich mach das doch nicht zum ersten Mal!“ Energisch richtete sie sich auf. „Es geht nichts weiter, was? Ich schaff das nicht!“

So ein Quatsch!“

Gundes nackter Fußballen klopfte auf den kalten Steinboden. Plötzlich erbrach sie. Schwallartig, heftig.

Juana riss das Laken vom Bett, um das Gröbste aufzufangen. „Ausgezeichnet!“, rief sie erfreut, obwohl das in reichlich Wein ertränkte Kräuterhähnchen vom Abend mit einem unerfreulichen Klatschen auf dem Boden landete.

Gunde warf ihr einen kurzen, verwirrten Blick zu. Aus ihrem offenen Mund tropfte Basilikumsoße. „Juana, du bist furchtbar!“, schnaubte sie, nahm den nassen Lappen entgegen und wischte sich über Hals und Gesicht.

Nein ehrlich, ein gutes Zeichen.“ Juanas Lächeln war so entwaffnend, dass Gunde unwillkürlich zurücklächelte. Bis sie an sich hinunter sah.

Das Hausfrauenauge wanderte über das basilikumgrüne Laken, die botanisch dekorierten Öllämpchen und die grün gesprenkelten Plüschpantoffeln. „Du meine Güte!“, stöhnte sie.

Gunde war nicht zimperlich, aber pingelig. Schon beugte sie sich gefährlich vornüber, um die Spuren der Basilikumsoße bis unter das Bett zu verfolgen. Glücklicherweise setzte die nächste Wehe ein und die drohende Tirade gälischer Kraftausdrücke erstarb auf ihren Lippen.

Halb so schlimm“, beschwichtigte Juana und machte sich rasch daran, die Reste des Abendessens einzusammeln. Eine neue Wehe kündigte sich an. „Pass auf, hol weniger Luft“, riet sie.

Gunde nickte. Im Schein der kleinen Flammen funkelten ihre Augen kampflustig. Die gälischen Verwünschungen, zu denen sie wieder ansetzte, endeten abrupt und gingen über in einen gepressten Summton. Langsam erschien das Köpfchen, dehnte die Scheide auf und drängte die geschwollenen, fleischroten Schamlippen auseinander. Gundes Kehle entrang sich ein gutturaler Laut. Sie beugte sich vornüber, bis sie drohte, von den Stühlen zu kippen.

Mach langsam, Gunde“, mahnte Juana, während sie die Finger einer Hand bremsend auf das feuchte, blonde Kopfhaar des Kindes legte.

Gunde atmete hastig, stoßweise. Sie presste neuerlich und Juana sah die faltige Nackenhaut des Kindes. Langsam schob sich der gewaltige Kopf aus ihrem Leib. Dann rutschte das Kinn des Kindes über den Damm und der Kopf drehte sich. Gott sei Dank, seufzte Juana, zumindest machte das Kind keine Metzchen!

So, der Kopf ist da!“, sagte sie zu Gunde, die sich daraufhin etwas entspannte.

Bald holte die Irin wieder Luft, verzog das Gesicht und presste erneut. Fleischige, runde Schultern kamen zum Vorschein, dann schlüpfte der Körper ganz heraus, begleitet von Gundes durchdringendem, lautem Schrei.

Es ist wieder ein Junge!“, lachte Juana. „Und was für ein Pfundskerl, dein ...“

Samuel“, keuchte Gunde.

Samuel, stimmt.“ Juana wischte dem Neugeborenen Schleim und Blut aus dem Mund, rubbelte mit den Händen über seine kräftige Brust, bis er protestierte, und gab ihn dann in Gundes Arme.

Im Nu wich der erschöpfte Ausdruck im rosigen Gesicht der Irin einem seligen Lächeln. „Kommst gerade recht, mein Liebling“, murmelte sie mit sanfter Stimme, “zu unserem Fest der vier alten Jahreszeiten”. Wie Juana es mit ihr besprochen hatte, legte sie das Kind sofort an die Brust. Gunde grunzte zufrieden, als es die Warze fand und zu saugen begann.

Welche Eintracht und Harmonie, dachte Juana, die das Bild der beiden nicht unberührt ließ. Nicht, dass sie Gunde dieses Glück geneidet hätte. Aber ein kleiner, unmerklicher Stich in der Brust sagte ihr deutlich, dass Zigeunerinnen in ihrem Alter meist schon eine Handvoll Kinder hatten. Dennoch würde sie den Möhrensamen weiternehmen und sich dem Marqués so oft wie möglich entziehen. „Das Fest der alten Jahreszeiten?“, fragte sie, um diese Gedanken zu verdrängen.

Gunde nickte, wobei sie ihren Oberkörper monoton vor und zurück wiegte. „Genau. Anfang August ist für uns Kelten Lugnasad, Herbstbeginn. Da sind die Geister frei und können alles Mögliche tun – Gutes oder Böses, je nachdem. Schamanen, Druiden und Zauberer feiern immer noch die alten Sonnen- und Mondfeste.“

Auch wir haben solche Feste, dachte Juana und hockte sich auf den Boden. Während sie die Nabelschnur beobachtete, schweiften ihre Gedanken zu den Zeremonien der Sommersonnenwende und Tagundnachtgleiche bei den Calé, den Kalderas, den Roma, den Manouches. Gewiss fehlten Gunde die alten Feste ebenso wie ihr. Und auch die Menschen ihres Volkes. Gott, es war Monate her, seit sie das letzte Mal das Lachen der Kinder aus ihrem Stamm gehört hatte. Monate, die sie aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte. Aber hatte sie das tatsächlich? Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. „Hm... auf einer der Karten hab ich gesehen, wo Irland liegt.“ Sie sah auf und blickte in Gundes weiche Züge. „Das ist verdammt weit weg.“

Ja“, murmelte die andere. „Verdammt weit.“

Es klang nicht, als plane die Irin in absehbarer Zeit in ihre Heimat zurückzukehren.

 

 

Während Juana auf die Nachgeburt wartete, warf sie noch einmal einen prüfenden Blick ringsum. Hatte sie an alles gedacht? Gundes Mann Erik hatte Recht gehabt, auf Tagomago gab es wirklich nicht viel. So hatte sie eines Tages das kleine Eiland vor Ibizas östlicher Küste verlassen und in Ibiza-Stadt feinen Bindfaden, Rotkali und Zimmettinktur besorgt und auf dem Gut nebenan nach Wermut, Brennnessel und Weinraute gesucht. Rosa, die Gutsverwalterin auf Ibiza, hatte sogar frische Schafgarbenblätter gefunden und einer der Pferdeknechte war angewiesen worden, Fallen für Murmeltiere aufzustellen, um ihr Schmalz zu gewinnen. Neben den Kleidern, die sie bei ihrer Rettung am Leib getragen hatte, war ihr nur der Beutel mit den kleinen, schwarzvioletten Knollen des Mutterkorns geblieben, den sie zusammen mit ihrem Amulett am Lederband um den Hals getragen hatte. Das Gift war das wichtigste Mittel gegen eine starke Blutung. Eigentlich, dachte sie und Beklommenheit stieg in ihr hoch, war es für sie bestimmt gewesen...

Alles war vorbereitet und lag griffbereit in ihrer Nähe: Auf einem kleinen Ofen köchelte Wasser in einem Topf und in einem anderen war ein Sud aus Ingwer, Nelke, Zimt und Verbenenkraut angesetzt, dessen würzig-exotischer Duft das Schlafgemach erfüllte. Und in einem Mörser stand das zerstoßene Mutterkorn bereit. Zunächst aber schob Juana der Irin ein frisches Blatt der Weinraute zwischen die Zähne. „Nur zur Vorsicht, Gunde“, erklärte sie. „Du musst es gut kauen.“

Muss das sein?“ Gundes freundliches Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Die vorige Hebamme“, ihre Stimme war voller Protest, „schwor auf Bernstein und Blutstein – in die Hand gedrückt!“

Ich weiß“, sagte Juana, „aber es hat auch nicht die Spur gewirkt, oder?“ Sie sah auf. Die Blätter waren widerlich krautig, aber sie halfen wirksamer gegen Blutungen als die Steine oder gar der Aderlass, den die christlichen Ärzte so gerne empfahlen. Gunde gehorchte und kaute tapfer. Sie saß immer noch zwischen den beiden Stühlen, zusammengesunken und vornüber gebeugt.

Behutsam und doch bestimmt tasteten Juanas Hände über den schwammigen Bauch. Die Gebärmutter stand hoch, zu hoch. Verdammt! Aber noch war die Nachgeburt nicht abgegangen, noch musste sie warten. Wie lange würde es dauern? Sie war weiß Gott keine, die es schnell mit der Angst zu tun bekam. Aber schon merkte sie, wie sich ihre Gelassenheit verflüchtigte. Entschlossen wandte sie sich zu dem Topf und reichte Gunde einen Becher von dem aromatischen Sud. Nur nicht die Nerven verlieren, sagte sie sich, noch blutete die Frau ja nicht. Dennoch hatte sie das ungute Gefühl, dass es auch diesmal dazu kommen würde, vielleicht noch stärker als das letzte Mal. Sie dachte zurück an ihre Mutter. Hilflos hatte sie damals zusehen müssen, wie sie nach der Geburt der kleinen Schwester in ihren Armen verblutet war. Devlam! Schon spürte sie, wie ihr die Kleider am Körper klebten.

Beherzt griff sie in Gundes schwabbeligen Leib, massierte dort, wo sie die Gebärmutter vermutete und als sie meinte, ein Zeichen an der Nabelschnur zu sehen, befahl sie Gunde zu pressen. Dunkles Blut sickerte aus der Vagina und mischte sich mit dem hellroten Blut aus dem tiefen Riss am Damm. Doch der beunruhigte sie nicht. Den Riss würde sie später versorgen - später, wenn die Blutung stand.

Als die Nachgeburt sich löste, nabelte sie den kräftig zappelnden Jungen ab, wickelte ihn straff in ein Tuch und sprang mit dem Bündel im Arm auf die Beine.

He!“, zischte Gunde. „Wo willst du mit ihm hin?“

Er ist jetzt bei Erik besser aufgehoben. Himmel, du weißt...!“ Juana nickte zu Gundes Schoß.

Schon möglich. Aber ich muss ihn erst taufen. Gib ihn mir!“

Wie?“ Juana starrte sie an. Nur zögerlich gab sie das Kind aus der Hand. „Also ehrlich, Gunde...!“

Ja, ja“, raunte die Irin plötzlich ganz weich, während sie das Kind auf ihre Knie legte, es auswickelte und mit Milch aus ihren Brüsten taufte.

...und ich gebe dir den Namen Myrrdin“, hörte Juana sie leise murmeln, während sie auf das Blut achtete, das aus Gundes Schoß auf den Boden tropfte.

Gunde sah auf. „Man kann auch Merlin sagen. Das bedeutet eigentlich kleiner Falke - kleiner Falke für die Frauenjagd. Lukas' Seelenname ist Cuchulain. Cuchulain war ein tapferer Krieger...“

Das mag schon sein”, meinte Juana und schnappte sich den Jungen. Bevor sie den Raum verließ, wandte sie sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. „Das war jetzt keine wirklich christliche Taufe, Gunde.“

Die Irin lächelte leise. Offensichtlich gab es für sie noch mehr zwischen Himmel und Erde, als es die katholische Kirche predigte.

 

Im angrenzenden Raum saßen Erik und der Marqués beim Würfelspiel. Der Umgang der beiden Freunde war mit den Jahren immer wortkarger geworden und beschränkte sich gelegentlich nur noch auf einzelne Gesten. Im Moment erinnerte ihr Anblick an Spieler, die tagein tagaus beim selben Spiel hockten und nach Regeln spielten, die nur sie beide kannten. Ab und zu kreuzten sich ihre Blicke in stillem Einverständnis, dann griffen sie zur Karaffe mit dem St. Emilion und schenkten sich nach. Nicht, dass dieser sechste August, an dem Nicolas seinen dreiunddreißigsten Geburtstag feierte, irgendeine Bedeutung für ihn gehabt hätte. Dennoch konnte nichts darüber hinweg täuschen, dass dies kein gewöhnliches Würfelspiel war. Die Situation war auch völlig anders als damals, bei Elviras Niederkunft. Diesmal lag nicht seine Schwägerin, sondern Gunde im Zimmer nebenan in den Wehen, und wenn Erik auch ständig mit seiner Frau in die Wolle geriet, so blieb sie doch das Wertvollste, was er besaß.

Von Zeit zu Zeit hatte der Ire Richtung Tür gehorcht, seinen mächtigen Lockenkopf geschüttelt und wieder zu den Würfeln gegriffen. Seit er jedoch das laute Stöhnen und gleich darauf das Greinen des Neugeborenen hinter der eichenen Tür vernommen hatte, war er wie ausgewechselt. Seine wasserblauen Augen lachten, obwohl er wusste, dass die größte Gefahr noch bevorstand.

Endlich öffnete sich die Tür und Juana schlüpfte mit dem Kind im Arm heraus. Erik sprang auf. Zögerlich tapste er auf die beiden zu, seine Stirn fragend gerunzelt. In Nicolas' Gesicht trat ein ähnlicher Ausdruck.

Ein Junge!“, strahlte Juana und öffnete das Tuch. „Aj, du hast einen strammen Jungen bekommen!“ Sie streckte Erik das wimmernde Bündel entgegen. In seinen riesigen Händen wirkte das Kind zerbrechlich und klein.

Der sonst stets gefasste Hüne konnte nun kaum an sich halten und überließ sich ganz der Flut aus Freude und Stolz. Schade, dass Gunde ihn jetzt nicht sehen kann, dachte Juana. Verstohlen blickte sie zum Marqués.

Dieser betrachtete Vater und Sohn. Den Freund so verletzlich zu sehen, hatte etwas Berührendes an sich. Leise näherte er sich. „Das hast du wieder prächtig hinbekommen, mon ami“, schmunzelte er, auf Samuels niedliche, aber unübersehbar männliche Attribute nickend, die das Tuch freigab. Anerkennend klopfte er dem Freund auf die Schulter.

Juana beobachtete die beiden unter halb gesenkten Lidern. Der Ire war nur wenig größer als der Kapitän, brachte aber einiges mehr auf die Waage. Aufgrund seiner lockigen Löwenmähne und des massigen Brustumfangs, mit dem er einen Brückenpfeiler hätte verdunkeln können, wirkte er weitaus hünenhafter. Die ungeachtet seiner Bräune helle Haut und das Rotblond seiner Haarpracht standen im krassen Gegensatz zur dunklen Erscheinung des anderen.

Erik grinste. „War keine Kunst.“ Sein Brustkorb nahm an Umfang noch etwas zu. „Hat genug von dem Bingelkraut gekaut, die Gute.“

Wie?“

Na, lass dir von der Fachfrau erklären, was es damit auf sich hat, Partner. Das Zeug wächst übrigens drüben auf dem Gut. Ist noch jede Menge davon da...“ Verschwörerisch rollte er die Augen.

Gott...! Juana wandte sich, den Iren mit Nichtachtung strafend, Richtung Tür. Der Marqués hob eine scharf geschwungene dunkle Braue und beschränkte sich für den Moment darauf, aristokratisch überlegen zu schauen.